Leseprobe 1

Chris Hannesen

Freie Redakteurin und Autorin

Chris Hannesen

Am Fünfzehnten

FÜR DIE KLEINE lESEPAUSE: KURZGESCHICHTE

Der Novembermorgen zieht über das kahle Feld. Ein Kranichpaar trompetet seinen Abschiedsschmerz hinter den anderen her, in den grauen Himmel, Richtung Süden. Die Mutigen bleiben hier, auch wenn der Winter kalt ist, wenn es ungemütlich wird auf der Insel, wenn es dauert, bis der Frühling die Farben zurückbringt. Sie harren aus, Hierbleiber, Wartende. Jochen zündet eine Zigarette an, bläst den Rauch in die Luft. Nebel setzt sich auf die gläserne Wand der Bushaltestelle, verwischt seinen Blick auf die Vögel.

Das Auto hat er im Carport geparkt, weiter links als rechts, wie Johanna es mag, damit die Katzen Platz haben, um neben dem Fahrzeug in den Garten zu laufen. Dabei wohnt sie längst nicht mehr hier. Es könnte Jochen egal sein, wo das Auto steht. Ist es nicht. Den Katzen schon, sie nehmen den Weg über das Dach, wie sie es immer getan haben.

Jochen zieht an der Zigarette, lächelt Vorfreude in seinen Herbstkragen hinein. Heute ist der Fünfzehnte und an jedem Fünfzehnten im Winter trifft er sich mit Johanna. Am Meer, für ein paar Stunden gestohlener Zeit, voller Wellenlauschen, Reden und Schweigen. Im Sommer geht das nicht, da übertönen hessische und sächsische Stimmen die Sprache der Wellen. Jetzt ist das anders, denn gleich nach den Kranichen sind die Gäste fortgezogen, zurück in ihre kaminbeheizten Behaglichkeiten, sicher vor Sturm und aufgewühltem Meer. Die Ostsee hat Zeit für ihre eigenen Kinder. Sie werden Wein trinken, deshalb bleibt das Auto im Carport stehen, weiter links als rechts.

Der Bus kommt. Jochen wirft die Kippe auf den Boden, tritt sie aus, entsorgt sie im Mülleimer. Er steigt ein, zahlt, der Bus fährt an und Jochen verliert kurz das Gleichgewicht. Die Weinflasche, die im Beutel mit dem Blümchendruck steckt, schlägt gegen die Haltestange am Sitz, auf den er sich fallen lässt. Auf dem Platz neben ihm sitzt eine Dame, sie rückt zur Seite, drängt so nah ans Fenster, dass ihre Wange die Scheibe streift, hält den Blick angestrengt auf die Straße gerichtet. Kaum merklich zieht sie die Nase kraus. Klar, denkt Jochen, ich stinke nach Qualm.

An der sechsten Station steigt er aus, macht sich auf den Weg an den Strand. Er zieht die Schuhe aus, krempelt die Hose hoch, läuft barfuß im flachen Wasser entlang. Ein paar Halme Seetang schlingen sich zwischen seine Zehen, Muschelkanten schneiden in die Haut, algenbewachsene Steine versuchen, ihn aus der Balance zu bringen. Jochen achtet nicht darauf, hat das alles tausendmal gespürt, Menschen von hier brauchen einen sicheren Tritt. Er bleibt stehen, schirmt die Augen mit der Hand ab, richtet den Blick in die Ferne. Keine Spur von Johanna. Er läuft weiter im Wasser, ruft ihren Namen, hält inne, lauscht. Nichts. Das Lächeln verliert sich im Sand.

Trotzdem, sie kommt sicher noch. Meter um Meter kommt er voran, Jochen sieht die Steilküste größer werden, schafft es in ihren Schutz, dann wollen die Füße nicht mehr. Ächzend setzt er sich auf die nasskalten Steine. Er versucht, eine Zigarette anzuzünden, der Wind verbietet es.

"Er hat es so satt. Das Frieren, das Rauchen, das egal-auf-welcher-Seite Parken im Carport. Jochen taumelt auf die Füße, sucht mit glänzenden Augen die Stelle, an der das Wasser die Farbe wechselt, an der schneeweiße Kreide sich in blauer Tiefe verliert. Gleich hat er sie wieder, gleich bin ich da, Johanna. "

Stattdessen braust er ihm die Wahrheit ins Gesicht. Ostseewind ist nicht zimperlich. Jochen friert in der sturmgetragenen, johannigen Sehnsucht, ballt die Fäuste, die Finger graben sich in die Handflächen, bis es schmerzt. Als er sich wieder spürt, öffnet er erst die Hände, dann den Wein. Er trinkt in langen Zügen, wischt sich den Mund mit dem Ärmel ab, die Augen gleich mit. Hier bin ich, brüllt er der See zu, hast du mich erkannt? Ich bin es, Jochen, achtundsechzig, seit siebenhundertfünfundachtzig Abenden ohne Umarmung zur guten Nacht! Jochen lacht, er lacht, weil das besser ist als zu weinen. Er schließt die Augen, sieht die Bilder, scharf, als wären sie gerade entstanden.

Sieht den Pfarrer an der Reling auf dem Kutter stehen, sieht, wie er dem Wind etwas anvertraut, das die Wellen ergreifen und auf ihren Kämmen davontragen – Johannas Asche.

Er hat es so satt. Das Frieren, das Rauchen, das egal-auf-welcher-Seite Parken im Carport. Jochen taumelt auf die Füße, sucht mit glänzenden Augen die Stelle, an der das Wasser die Farbe wechselt, an der schneeweiße Kreide sich in blauer Tiefe verliert. Gleich hat er sie wieder, gleich bin ich da, Johanna.

Das Wasser reicht schon bis über die Knie, Jochen atmet tief, hat die Hände in der Tasche, da spürt er eine Bewegung. Das Handy vibriert. Er zieht es heraus, will es von sich werfen, braucht es nicht mehr. Auf dem Display leuchtet das Bild einer jungen Frau auf. Wer lesen kann, kann nicht nicht lesen. Also liest Jochen. Papa, wo bist du? Hast du heute Abend Zeit? Es gibt Neuigkeiten. Daneben ein Smiley. Eine Umarmung.

Er bleibt stehen. Spürt Johanna, sie ist hier, wie lange hat er sie vermisst. Aber Johanna umarmt ihn nicht. Sie verpasst ihm einen Kinnhaken, wirft ihn um, schüttet ihn zurück auf das Ufer, will ihn nicht bei sich haben. Geh nach Hause, faucht sie, Lisa wartet auf dich.

Jochen liegt auf der Seite, den Mund geöffnet, alles schmerzt, alles und das Meer noch viel mehr. Er schafft es torkelnd an die Straße. Das Handy hat genug Saft, dass er ein Taxi rufen kann, dann ist es leer.

Als er vor seinem Haus aussteigt, hört er in der Ferne die Kraniche. Die Frühlingsfarben werden kommen, er wartet auf sie wie die Vögel auf dem Feld.

Christine_Porträt

Chris Hannesen

Freie Redakteurin, Autorin, Mitbegründerin von Rabenwerke

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